Leaving academia

Der Mythos der Überqualifizierung

Es hat ein wenig länger gedauert, aber mein Vorsatz für 2025 ist, jeden Monat einen Blog Eintrag zu schreiben. Da Vorsätze ja immer ein wenig schwierig sind, packe ich die Gelegenheit beim Schopfe und beginne nun schon. Stay tuned!

Auf meinen Social Media Kanälen sehe ich immer wieder Kommentare, dass Wissenschaftler*innen keinen Job außerhalb der Wissenschaft finden, weil sie überqualifiziert seien. Diese Idee kenne ich auch aus meiner Zeit als Wissenschaftlerin. Alle haben dann wissentlich genickt, wenn jemand in die Runde warf, dass man als Wissenschaftler*in ja für die meisten Jobs überqualifiziert ist, nur war gar nicht ganz klar, was damit genau gemeint ist.

Was bedeutet „überqualifiziert“ wirklich?

Dieses Begriff sollten man aus verschiedenen Perspektiven betrachten, denn der Begriff „überqualifiziert“ ist irreführend.

Arbeitgeber*innen nutzen ihn oft als Deckmantel für andere Bedenken:

  1. Bedenken hinsichtlich des Gehalts: Arbeitgeber*innen könnten denken, dass jemand mit umfangreicher Erfahrung oder Qualifikation ein höheres Gehalt erwartet, als die Stelle bietet.
  2. Befürchtete Unterforderung: Sie könnten annehmen, dass der*die Bewerber*in schnell gelangweilt sein wird und die Stelle bald wieder verlässt.
  3. Unpassende Kommunikation: Manchmal liegt das Problem darin, dass die Bewerbungsunterlagen oder das Gespräch den Eindruck erwecken, dass der*die Bewerber*in die Stellenanforderungen nicht richtig verstanden hat.
  4. Keine wissenschaftliche Erfahrung: Nur die wenigsten Menschen haben tatsächlich Wissenschaft betrieben. Viele Personaler, die die Einstellungsgespräche führen haben studiert, aber haben kein oder wenig Wissen über die Wissenschaft und welche Fähigkeiten sich man als Wissenschaftler*in aneignet. Wir sind also sowas wie eine Black Box. 

Ein Narrativ, dass man in der Wissenschaft häufiger findet, ist der Fokus auf Exzellenz und Spitzenleistungen. Man wird kontinuierlich dazu ermutigt, Höchstleistungen zu erbringen. Dieses Exzellenzstreben kann auf Dauer dazu führen, dass Wissenschaftler*innen sich als „überqualifiziert“ wahrnehmen oder sich fragen, ob sie in einem nicht-akademischen Umfeld überhaupt passen.

Dieses Narrativ kann auch in deinem eigenen Denken auftauchen – oft unbewusst. Nach Jahren harter Arbeit in der Wissenschaft, in der das eigene Wissen und die eigene Expertise geschätzt wurden, kann es schwierig sein, sich auf eine Position zu bewerben, die möglicherweise weniger akademischen Status hat. Manche Wissenschaftler*innen kämpfen mit der Frage: „Entspricht diese Position meinen Fähigkeiten?“ oder „Sollte ich nicht lieber auf eine prestigeträchtigere Stelle warten?“

In Wirklichkeit geht es also nicht um die Qualifikation selbst, sondern darum, wie diese aus verschiedenen Perspektiven wahrgenommen wird. Die gute Nachricht ist: Wahrnehmungen können beeinflusst werden.

Warum Wissenschaftler*innen nicht überqualifiziert sind

Wissenschaftler*innen bringen eine einzigartige Kombination von Fähigkeiten, Denkweisen und Erfahrungen mit, die in der Wirtschaft, im öffentlichen Dienst und sogar im Start-up-Umfeld extrem wertvoll sein können. Hier sind einige Gründe, warum Wissenschaftler*innen keineswegs überqualifiziert sind, sondern vielmehr unterschätzt werden:

  1. Problemlösungsfähigkeiten: Die Fähigkeit, komplexe Probleme zu analysieren, systematisch vorzugehen und innovative Lösungen zu entwickeln, ist in nahezu jeder Branche gefragt.
  2. Projektmanagement: Von der Planung über die Durchführung bis hin zur Evaluation – wissenschaftliche Projekte erfordern Organisationstalent, Zeitmanagement und Zielorientierung.
  3. Kommunikationsstärke: Wissenschaftler*innen sind es gewohnt, komplexe Inhalte verständlich zu erklären – sei es in Vorträgen, Publikationen oder in der Lehre.
  4. Anpassungsfähigkeit: Forschung bedeutet, mit Unsicherheiten und Veränderungen umzugehen. Diese Flexibilität ist ein großer Vorteil in dynamischen Arbeitsumgebungen.
  5. Eigeninitiative: Wissenschaftler*innen arbeiten oft selbstständig und treiben Projekte eigenverantwortlich voran – eine Eigenschaft, die viele Arbeitgeber schätzen.

Die Herausforderung besteht nicht darin, überqualifiziert zu sein, sondern diese Fähigkeiten so zu übersetzen, dass sie für die gewünschte Stelle relevant und verständlich erscheinen.

Ein wichtiger Schritt, um den Mythos der Überqualifizierung aus der Sicht der bewerbenden Wissenschaftler*in zu überwinden, ist das Bewusstsein für die eigene Rolle im Bewerbungsprozess. Anders als in der Wissenschaft geht es hier nicht darum, wissenschaftliche Exzellenz zu beweisen oder die besten Publikationen vorzuweisen. Der*Die Arbeitgeber*in sucht keine herausragende Wissenschaftlerin – er*sie sucht die beste Lösung für eine spezifische Herausforderung oder Aufgabe im eigenen Unternehmen.

Das bedeutet, dass man sich im Bewerbungsprozess nicht als Wissenschaftler*in in einer Disziplin, sondern als Problemlöser*in für die ausgeschriebene Rolle präsentieren muss. Forschungsergebnisse, Methodenkenntnisse oder Publikationsliste sind hier nur insofern relevant, wie sie einen direkten Mehrwert für die Stelle liefern.

Was bedeutet das konkret?

Fokus auf die Stellenanforderungen:

Statt zu zeigen, wie breit oder tief dein Wissen ist, solltest du klarstellen, wie deine eigenen Erfahrungen auf die spezifischen Aufgaben der Stelle passen. Wenn im Stellenprofil Projektmanagement gefordert ist, dann ist es notwendig zu beschreiben, wie du Forschungsprojekte erfolgreich geplant und durchgeführt hast – und nicht nur, welche Erkenntnisse dabei entstanden sind.

Perspektive des*der Arbeitgebers*in mitdenken:

Arbeitgeber*innen interessiert, wie du zum Erfolg des Teams oder des Unternehmens beitragen kannst. Sie denken in Begriffen wie Zeit- und Ressourcenmanagement, Teamarbeit und Ergebnisorientierung – nicht in wissenschaftlichen Kategorien wie Publikationsrang oder Impact Factor.

Vermeide es, wissenschaftliche Exzellenz in den Vordergrund zu stellen:

Während der akademische Hintergrund ein wichtiger Teil eines jeden Profils ist, sollte er nicht alles überstrahlen. Wenn du dich zu stark darauf fokussierst, könnte man den Eindruck erwecken, dass du Schwierigkeiten hast, dich auf neue Anforderungen einzulassen.

Die Botschaft: Wissenschaft ist deine Grundlage, nicht ein Selbstzweck

Im Bewerbungsprozess musst du deutlich machen, dass du deine wissenschaftliche Expertise als Werkzeug siehst, um praktische Probleme zu lösen. Du bist nicht (nur) der oder die „beste“ Kandidat*in in Bezug auf deinen akademischen Status – du bist die passendste Person für die ausgeschriebene Rolle, weil du genau das mitbringst, was das Unternehmen benötigt.

Dieser Perspektivwechsel ist entscheidend: Sobald du aufhörst, dich selbst nur als Wissenschaftler*in zu definieren, sondern dich als vielseitige*r Problemlöser*in wahrnimmst, kannst du Arbeitgeber gezielt überzeugen.

Die Frage ist nicht, ob du überqualifiziert bist. Die Frage ist, ob du deine Fähigkeiten so erklären kannst, dass sie zum Bedarf des*der Arbeitgebers*in passen. Wenn du dies schaffst, wird niemand mehr den Begriff „überqualifiziert“ verwenden, sondern dich als ideale Besetzung für die Stelle ansehen.

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